"Was uns nicht umbringt, macht uns härter", hat Friedrich Nitzsche uns erzählt.
Wenn du zu meiner Generation und darüber gehörst, kennst du diesen Spruch noch ganz gut. Selbst wenn du jünger bist, wird er sich in einer Ecke deines Mindsets austoben.
Aber stimmt er denn auch?
Sagen wir, du wirst von einem Auto überfahren. Du stirbst nicht. Hat dich dieses Erlebnis stärker gemacht? Machen Wunden und Verletzungen uns automatisch stärker? Nein. Bildet eine Verletzung per se den Charakter? Nein. Erstmal schwächt sie uns, tut weh und hindert uns am normalen Leben.
Was uns stärker macht ist das, was danach kommt. Was kommt, wenn du überlebt hast. Wenn du aufhörst, den Teil, der verletzt, leer, entzündet oder verbraucht ist, zu beanspruchen, damit er die Chance hat zu heilen und sich zu erneuern (-inklusive dem einen oder anderen Learning, warum und wozu dir das gerade jetzt passiert ist. Was heute aber nicht mein Thema ist)-.
Was uns wirklich stärkt sind Ruhe und Erholung.
Aus der Stressforschung wissen wir: Von der Anspannung in die Entspannung zu wechseln ist für unseren Körper ein eigentlich völlig normaler und gesunder Zyklus. Nur dass er das längst nicht mehr ist. Viele von uns haben verlernt, wie das geht, sich zu entspannen und einfach mal nichts zu tun ohne schlechtes Gewissen. Dazu gibt es inzwischen eine Reihe von Studien. Ein Beispiel, das mich besondern beeindruckt hat:
Lieber Schock als Langeweile?
Im Zuge eines Forschungsexperiments bekamen die Teilnehmenden einer Studie einen milden Elektroschock. Würden Sie 5$ bezahlen, um so etwas nie wieder fühlen zu müssen?, wurden sie gefragt. "Hell, yes!", war die Antwort. Daraufhin wurden die Proband*innen einzeln in einen Raum geführt, in dem sich außer dem Elektroschockgerät nichts befand. Sie bekamen nur die Anweisung, sich für 15 Minuten selbst zu beschäftigen. Das Ergebnis: Zwei Drittel der Männer und ein Viertel der Frauen gaben sich selbst Elektroschocks, anstatt einfach nur da zu sitzen und - nichts zu tun.
Wir sind also an einem Punkt, an dem Nichts-zu-tun-zu-haben so ungewohnt und unangenehm ist, dass wir uns lieber Elektroschocks zufügen, als es für 15 Minuten auszuhalten.
Wie viel Ruhe ist genug?
Ein Muskel, der nicht verwendet wird, verkümmert. Ein Muskel, der ohne Erholungsphase durchgehend belastet wird, ermüdet und ist nicht mehr belastbar. Ein Muskel, der trainiert wird und rasten darf, wieder trainiert wird und danach rasten darf, wächst und wird immer kräftiger.
Wie viel sollten wir täglich rasten, um bei unseren kognitiven, emotionalen und sozialen Aktivitäten kontinuierlich stärker zu werden? Hier liegt der Durchschnittswert bei 42%, das sind 10 Stunden an einem 24h-Tag. Diese Zeit benötigen wir für Erholungsphasen.
Und so könnten deine 42% aussehen:
8 Stunden Schlaf plusminus 1 Stunde
20-30' "stressreduzierende Gespräche" mit Partner*in oder anderen geliebten Vertrauten
30' körperliche Aktivität, in der Gruppe oder allein. Erhöht die Schlafqualität und erlaubt deinem Körper, aus dem Stress-Zustand in den Entspannungszustand zu wechseln
30' Aufmerksamkeit für das, was du isst. Einkaufen und Kochen zählen als "activ rest", weil beides dein Gehirn mit anderen Dingen beschäftigt als Arbeit. Sieh es als Meditation
eine 30-minütige Wildcard, die du verwenden kannst, wie du willst (außer für Arbeit). Für die einen ist das eine halbe Stunde mehr Training, Powernapping oder Achtsamkeitsübungen, andere gehen Fischen oder backen Cupcakes, wieder andere investieren mehr Zeit in ihr soziales Leben - je nachdem, was du brauchst und ob du zB. zu den extrovertierten Menschen, Hochsensiblen oder Foodies gehörst.
Produktive processing
Das Narrativ vom Permanent-produktiv-Sein, vom Zeitverschwenden, vom #firstworldproblem, dem Multitasking und dass das alles nur eine Sache der Selbstkontrolle wäre ist nicht nur falsch, es ist auch gefährlich. Es schädigt unser Gehirn und senkt Lebens- und Arbeitsqualität. Auch hier bestätigt die Forschung, was wir schon wissen: Egal was wir tun, wir können nur für eine gewisse Zeit unser Bestes geben. Danach sinken Performance, Konzentration und Energie, die Aufmerksamkeit beginnt zu wandern, die Motivation verpufft. Das kleine Wunder: Nach einer Pause kommen Energie, Kreativität und Neugier zurück. Warum? Weil unser Gehirn auch in der Pause eigentlich keine Pause macht, sondern in einen Verarbeitungs-Zustand wechselt. Wenn du nach 90 Minuten hochkonzentrierter Arbeit die Wäsche aufhängst, mit jemandem plauderst oder ein Katzenvideo anschaust, ist das für dein weiteres Arbeiten hochproduktiv.
"Mental rest is not idleness; it is the time necessary for your brain to process the world."
Mary Helen Immodino-Yang et al. (2012) in: Perspectives of Psychological Science 7, no.4 Gerade nach dem Jahr, das wir hinter uns haben, ist ein bewusstes Pause-Machen jetzt besonders wichtig. Rundherum beobachte ich eine besondere Art der Erschöpfung, eine "Covid-Fatigue-light" (im Unterschied zum COVID-Burnout und der echten COVID-Fatigue, mit der ich das nicht vergleichen will). Dir rechtzeitig und regelmäßig Ruhe zu geben ist kein Nice-to-have, sondern ein Must. Mit Dauerstress schädigen wir unseren gesamten Körper. Ohne Pausen bist du bald nicht mehr du selbst, ohne Schlaf sterben wir. Und ganz unabhängig davon ist es eine Sache des Selbstrespekts und der Selbstfürsorge, auf den eigenen Körper zu hören und rechtzeitig vom Gas zu treten. Im Sinne des "practice what you preach" gehe ich mit dem Newsletter in die Sommerpause - ab September gibt es wieder frischen Input für Herz & Verstand. Ich wünsche dir einen fabelhaft entspannten Sommer! Herzlich,
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